Sitzplatz

Sitzplatz

Eines unschönen Tages bot mir eine junge Dame ihren Sitzplatz an, im Bus oder beim Arzt, ich weiß nicht mehr.

Ich hatte dankend abgelehnt.

Obwohl ich eine geraume Zeit die öf­fent­li­chen Verkehrsmittel nutzte ist es wahr­schein­li­cher, es geschah im War­te­zim­mer.

Dort herrscht noch heute huldvolle Stille, wohl in Anbetracht dessen, was jedem der Anwesenden in den nächsten Stunden drohen mag und respektvoller Umgang, da ja durchaus Todgeweihte unter ihnen sein könnten.

Also hier kam der Tag der Erkenntnis, die Stunde der Wahrheit, die Sekunde des Schre­ckens.

Im Nachhinein muß ich meine damalige, ablehnende Reaktion verurteilen. Erstens weil unclever, Sitzen ist deutlich an­ge­neh­mer als Stehen. Zweitens unfair, weil sich ein junger Mensch für diesen Tag ziemlich fest vorgenommen hatte, ich be­ge­he heute eine gute Tat - und dann kam ich. Nicht mehr zu ändern.

Im Bus wäre gleiches wohl noch prägnanter gewesen. Dort herrschen nämlich teilweise skrupellose, asoziale Zustände und auch Herrn Knigge würde es dabei regelmäßig die Fußnägel aufrollen. Im ganz normalen Regelfall sind alle Sitze mit meist jungen bis mittelalten Personen besetzt, selbst die Behindertenplätze. Manchmal auch durch hochgelegte Füße oder abgestellte Hab­se­lig­kei­ten eines Mitreisenden. Die mit Krück­stock und Einkaufs-Trolli im Schlepp­tau zusteigende Uroma müßte hier nun im schaukelnden Bus bei voller Fahrt freihändig ihren Be­hin­der­ten­aus­weis herauskamen und den kopf­hö­rer­be­du­del­ten Schirm­kap­pen­trä­ger auf­for­dern den Platz zu räumen. Gleichzeitig aber von zwei Seiten mit lauthals telefonierenden Passagieren umgeben, die sich an den hoch angebrachten Halteschlaufen festgezurrt haben und beim plötzlichen Umdrehen mit ihrem Rucksack huckepack Kol­la­te­ral­schä­den bei Mitfahreren ver­ur­sa­chen könnten, bleibt Oma lieber brav nahe der Tür stehen, sind ja nur ein paar Stationen.

Ist etwa eine Horde Jungsporne, deutschstämmig oder auch nicht, in Bahn oder Bus, vorwiegend hinten mitfahrend, dann gilt es diese No-Go-Area zu respektieren. Geraten Ältere oder auch jüngere weibliche Passagiere unbedacht in diesen Dunstkreis, dann liegt Ungemach in der Luft. Ich habe selbst erlebt, wie solche Bande im gut besetzten Bus mit einem Basketball umher geworfen haben, Schlachtrufe grölten und zwei Mädchen attackierten ohne jedoch Bande zu knüpfen, bis der einsame Busfahrer eine entsprechende Spechanlagenäußerung von sich gab. Daraufhin öffnete die Burschenschaft beim Halt an einem Zebrastreifen die Notverriegelung der Bustüre und alle strömten ins Freie, fröhlich und brüllend in eine Schlucht im städtischen Dschungel entschwindend. Der Fahrer hatte ein wenig Mühe die automatische Türe wieder in Betrieb zu nehmen, während dahinter die ersten Autos hupten, chauffiert von Burschen identischer Gesinnung, aber in etwas älterer Version. Dann ging es aber weiter.

Zum Glück hatte ich aber einen Sitzplatz und konnte alles bequem verfolgen.