Die alte Dame

Als voll emanzipierter Vater war ich wieder einmal mit dem Kinder­wagen in den nahen Grün­anlagen unter­wegs. Auf dem schmalen Asphalt­weg ging vor mir etwas schwer­fällig in kleinen Schritten eine alte Dame. Mit dickem Mantel und Hut war sie winterlich vermummt. Ich holte schnell auf. Ein paar Augen­blicke später war ich auch schon an ihr vorüber. Und als ich bereits etwas Abstand hatte, rief sie mit langem Hals in den Wagen blickend: „Hallo, junger Mann!" Ich stoppte und sie kam näher. Ich hatte noch nie so ein von Falten zer­furchtes Gesicht gesehen, das aber irgendwie freundlich, ja gütlich wirkte.

„So ein liebes Kind, ist es ein Junge?“. „Ja“, gab ich zur Antwort. „Und wie alt?“ - „Knapp 12 Wochen“. „Ach“, seufzte die Alte, „als Unsere noch so klein waren“. „Zuerst hatte ich ja eine Totgeburt und danach ist mein Ältester im Krieg geblieben. Aber der Kleine…ist am Kriegs­ende geboren. – Zeiten waren das. Ich habe ihn damals mit 10 Monaten noch die Brust gegeben. Es gab ja nix zu essen, schon gar nicht für Babies. Dann hat man das Stillen so lange wie möglich aus­genutzt“.

„Stillt ihre Frau auch?“, kam eine Zwischen­frage von ihr. „Nicht mehr, sie ist berufstätig und da ist es zeitlich schlecht, aber sie hat“, sagte ich kurz. „Ja, ja. Damals habe ich noch Nachbars Kind mit durchgefüttert, so ergiebig war ich. – Sie lachen, junger Mann. Der Arzt hatte der Frau gesagt, daß ihr Kind nicht durch­kommen wird, wenn es nicht die kräftige Mutter­milch erhält – und sie hatte keine! Da hab ich unsren Jung abgestillt, der brauchte es ja nicht mehr so, und den Nachbars­jungen versorgt“. „Ich weiß gar nicht, was aus ihm geworden ist“, sagte sie gedanken­versunken und ging weiter.

Gerade wollte ich mich verab­schieden, da sagte sie: “Kennen sie den?“. Ich stutzte: “Wie? - Auch so..“. „Also“, begann sie, „hier ist ja eine erz­katholische Gegend. In einer Apotheke wird aber ständig nach der Pille verlangt. Die jungen Dinger kaufen aber immer einen kleinen Holz­hammer mit. Nun das Geschäft geht gut und nach einer Weile fragt der Apotheker neugierig geworden, wozu wohl das Hämmer­chen gut sein soll. Nun, so erklärte eine junge Frau, die Pille hat der Papst verboten, aber von einem Pülver­chen war dabei nicht die Rede“.

Ich war überrascht über die Spritzigkeit der alten Dame und mußte ehrlich lachen. Ihre Falten gerieten in Be­wegung. Sie lächelte. Ich legte meine Hand auf ihre Schulter und verab­schiedete mich. Es kam mir vor, als würde ich sie schon ewig kennen. Unsere Wege trennten sich. Sie bog langsam in einen Seiten­weg und rief noch laut, daß sie 86 Jahre alt sei und falls sie nochmal heiraten würde, keine Kinder mehr bekomme wolle und deshalb auch die Pille nähme.

Mir war eigen­artig zumute. So, als hätte ich mich gerade von einem geliebten Men­schen für immer verab­schiedet. Ich habe sie nie wieder gesehen.